Wir sind verwandt, um viele Ecken. Um wie viele genau, wissen wir beide nicht zu beantworten. Wir sehen uns heute das erste Mal, denn meine Großmutter meinte, wir wären uns ähnlich: immer am reden und tatkräftig dabei. Es folgt ein Begegnungstagebuch mit Künstlerin Ulrike Willenbrink.
Mittwoch, 26. März 2014 – Von Künstlerinnen und Seemännern
Freiheit und Zufriedenheit – das ist es, was Ulrike Willenbrink mit ihrer Arbeit vermitteln möchte. Die Freiheit, das zu tun und zu lassen, was man wirklich möchte und die daraus resultierende Zufriedenheit für sich wahrzunehmen. Fähigkeiten, die unsere Gesellschaft verlernt hat.
Wir stehen im Präsentationsraum des Ateliers vor ihren Karikaturen namens „Nachbarn“. Sie zeigen Menschen, die ihr begegnet sind, und die jeder von uns im Alltag trifft – reduziert auf die bloßen Charaktere. Ein Tick Witz, auch Ironie, ist immer mit dabei: „Jeder kennt doch diese Frauen, die hinten immer einen Dutt tragen. Da habe ich dann einen Vogel hineingesetzt – hat nicht jeder von uns sowieso eine kleine Meise?“. Erst beim Zweiten Blick auf die Bilder fallen weitere Gimiks auf „Hast du ihr da wirklich Schwimmflügel an die Arme gemalt?“, frage ich. Ulrike lacht und entgegnet: „Ja, warum nicht? Sie wollte schon immer einmal fliegen. Doch manche Dinge passieren einfach nie. Aber Schwimmflügel sind schließlich auch eine Art Flügel…“
Ulrike klein, quirllig und eine Beobachterin. Sie schaut tiefer in den Menschen, entdeckt mehr, als das bloße Äußere. Eine Eigenschaft, die ihr bei ihren Ideen zugute kommt. Vor allem bei einem ihrer aktuellen Projekte: In Kooperation mit Fotograf Thomas Pritschet und Journalistin Sonja Praxl besuchte Ulrike Seemänner im internationalen Seemannsclub „Duckdalben“ im Hamburger Hafen.
Sie fotografierten diese mit ihren Talismanen. Ulrike verwandelte die Portraitfotos anschließend in Werke, die die Erlebnisse oder die Charakteristika der Seemänner wiedergeben. Inspiriert nur von den Talismanen und der individuellen Optik der Männer – ohne Genaueres über diese Menschen zu wissen. Rückwirkend wurden ihre Ahnungen und künstlerischen Umsetzungen durch die von Sonja Praxl geführten Interviews bestätigt. Bis heute sind so sechs eindrucksvolle Großformate entstanden, die in einer Open Air Ausstellung am Hamburger Hafen präsentiert werden könnten. Die Ideen sind da, die Fotografien sind geknipst, doch für weitere Werke fehlt schlicht das Geld. Ein Los des Künstlerdaseins.
Mittwoch, 21. Mai 2014 – Von kleinen Kreativen und Zauberbäumen
Sie schreckt zusammen, als ich laut grüßend ihr Atelier betrete: „Ich war gerade so in das Weiß vertieft, dass ich dich gar nicht Kommen gehört habe.“, lacht Ulrike. Sie arbeitet gerade an großen Bildern, die zunächst schwarz grundiert werden – dadurch kommen später die Farben intensiver zur Geltung. Sie zeigt mir den Effekt mit Preußisch Blau.
Dann flitzt sie in eine Ecke ihres Ateliers, zückt ihr iPhone und zeigt mir Bilder von ihrem neusten Projekt: „Ich arbeite gerade regelmäßig in einem Kindergarten und betreue dort bis zu acht Kinder zeitgleich. Häufig kommen jedoch auch andere Kindern angelaufen und sagen „Uli, Uli, ich will auch malen!“ – aber mehr als acht gleichzeitig schaffe ich nicht.“ Sie erzählt den Kindern unter anderem Geschichten, die diese dann malen. Zum Beispiel von einem dicken Wurm, der aus einem Apfel hinaus gekrochen kommt, eine Sonnenbrille trägt und seine lange, rote Zunge frech ausstreckt. Die Werke der kleinen Künstler werden anschließend an einen „Zauberbaum“ gehängt, damit jeder sie betrachten kann.
Ich wandle durch ihr Atelier und schieße ein paar Bilder: von den bunten Behältern im weißen Regal, von den „Nachbarn“ die in Ulrike’s küchenartigem Hinterzimmer über der Trinkgläser-Reihe aufgehängt sind, von den Behältern mit mehreren hundert Pinseln und von Ulrike selbst, beim Malen.
Sie zückt den Pinsel: „Ich zeichne dich jetzt!“ – und fängt über zwei große Leinwände an, meine rote Brille in strahlendem Blau zu malen. Preußisch Blau.
Samstag, 24. Mai 2014 – Vom Farbrausch und Sinneswandel
„Erkunden Sie die Kraft der Farben und spüren Sie, wie die Stille zum Rausch wird, wenn die Gedanken ruhen. Denn wenn die Sinne ihre Kraft entfalten, bricht die Kreativität aus ihren Grenzen und lädt ein zum Tanz mit Form und Farbe auf der Leinwand.“ (U. Willenbrink)
Ich bin berauscht. Es ist 1 Uhr nachts und ich düse mit David, einem weiteren Teilnehmer des Mal-Events, durch das nächtliche Eimsbüttel. Es liegen sieben Stunden zurück, in denen ich erfuhr, dass mich nicht nur das Schreiben von Texten in eine Art Trance versetzen kann, sondern auch das mir bis zu diesem Zeitpunkt fremde Material „Acryl“.
18 Uhr – „Wir starten mit Musik und einem Schluck Prickelwasser, um locker zu werden.“, Ulrike begrüßt vier Teilnehmer in ihrem noch hellen Atelier. Später wird es Gewittern und dicke Regentropfen auf das Plastikdach poltern – das allein schon ein Erlebnis für sich.
Wir werden herangeführt an die Materialien, die uns an diesem Abend zur Verfügung stehen: Edding, Feinmaler, Acryl, Acryl verdünnt. „Wenn Ihr das Türkis mit dem grellen Gelb mischt, bekommt ihr einen ganz intensiven Grünton“ – Fachwissen wechselt mit der Melodie der Kreativität. Einem Rauschen, das Rauschen der Freiheit. Sich fallen lassen – fern von Stress, fern von Müssen, fern von Normen. Gezielt eingesetzte Musik leitet uns durch den Abend. Aktiv, passiv – aufregend, ruhig.
„Ich würde jetzt gerne das Drumherum in Rot gestalten, nur dann halten mich alle für einen Psychopathen.“, sagt David bei der freien Gestaltung seines Selbstportraits, einer Vorübung zum Hauptbild des Abends. „Wer soll dich denn hier für einen Psychopathen halten?“, frage ich, „Wir sind doch schließlich unter uns.“ Er entscheidet sich für neongrün.
„Meine Events, so unkalkulierbar wie die Kunst selbst, wecken die Lust am Abenteuer, sich in die Kreativität der Farbenpracht fallen zu lassen.“ (U. Willenbrink)
Pause – wir sitzen im Hinterzimmer des Ateliers und schmausen gemeinsam. Ulrike hat ein kleines Buffet mit Orangen-Walnuss-Salat, Humus, Quark-Dip, Salami, Frikadellen, Bergekäse und Baguette zusammengestellt. Eine angenehme Kost, die Kraft für die nächsten vier Stunden gibt.
„Schwarz, grün, bunt – bunt, bunt, Menschen.“, kreist es in meinem Kopf. „Braucht wer frisches Wasser?“, fragt Ulrike – keine Antwort. „Möchte wer noch etwas trinken? Wein?“, fragt Ulrike – keine Antwort. „Redet heute überhaupt irgendwer noch mit mir?“, fragt Ulrike – keine Antwort. Farben, Rauschen, Sein. Dasein.
Es ist 1 Uhr nachts und ich düse mit David, einem weiteren Teilnehmer des Mal-Events, durch das nächtliche Eimsbüttel. Und ich bin im Farbrausch.
Mehr Infos: Farbenrausch & Sinneswandel
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